Die Reifeprüfung

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Es war ein verregneter Tag im Oktober. Matthias war schon früh losgefahren, in der Nacht hatte er vor lauter Aufregung kaum schlafen können, um sechs hielt er es nicht mehr aus im Bett. Vor Wochen hatte er in einem Hamburger Anzeigenblättchen geschmökert. Zwischen vielen bunten Partyankündigungen und schmuddeliger Sexwerbung fiel sein Blick auf die paar dürren Zeilen einer Kleinanzeige:

„Du hast ausgefallene Fantasien, exotische Träume? Bist Du reif für die Realität? Wenn Du das wirklich wissen möchtest, bieten wir Dir DIE einmalige Chance! Hab Mut und melde Dich! Du wirst es nie bereuen! Chiffre XYZ.

Tagelang war ihm dieser Text nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Immer wieder wiederholte er die Worte und setzte sich schließlich an seine alte Schreibmaschine, um eine Antwort zu formulieren. In irgendeinen PC, schon gar nicht den in seinem im Büro, wollte er seinen Brief nicht tippen, das war ihm zu heikel. Auch gelöschte Textdateien ließen sich bekanntlich regenerieren…

Schließlich war es geglückt, eine Seite war sauber und ordentlich beschrieben mit allem, was er von sich preisgeben wollte.

Noch zwei Tage trug er den Brief in der Jackentasche mit sich herum, dann war es soweit: mit leicht zittrigen Fingern warf er das Kuvert in einen der gelben Postkästen. Er war extra in ein fremdes Stadtviertel gefahren, man konnte ja nie wissen…

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Gleich am nächsten Tag schaute Matthias in seiner privaten, anonymen Mailbox nach, doch logischerweise war keine Nachricht drin, nur ein paar von den üblichen, lästigen Spams. Er brauchte kein Viagra, schon gar kein illegales, davon waren eh mehr als die Hälfte wertlose Fälschungen.

Solche und ähnliche Angebote hatten ihn noch nie interessiert. In seinem tiefsten Inneren gab es, solange er denken konnte, einen Traum, der ihn nicht losließ. Und wenn ihn etwas anturnen konnte, dann waren es alle Dinge, die damit irgendwie zu tun hatten.

Vor einigen Jahren schon war Matthias im Internet auf einer dieser ziemlich wüsten SM-Sexseiten zufällig einem Bild begegnet, das ihn Tag und Nacht verfolgte: es war die perfekte Darstellung seines Traumes.

Von diesem Tag an wußte er, daß er nicht allein war auf der Welt. Und daß er nicht ruhen würde, bis er irgendwann in seinem Leben sein Ziel erreichte. Er hatte schon vieles geschafft, immer getreu seinem Motto: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Er würde auch diesen Weg finden.

Einige Tage nach dem Absenden seines Briefes fand Matthias eine Mail in seinem Postfach mit dem schlichten Titel: Reifeprüfung.

Er schaute auf den Absender: einfach nur „Cora“, nichts weiter.

Sein Herz fing wie rasend an zu klopfen. Er spürte, wie sich jede Faser seines Körpers zusammenzog. Es wurde ernst. Er klickte mit zittrigen Fingern die Mail an, die Maus war erst beim dritten Mal an der richtigen Stelle. Da stand nicht viel zu lesen:

„Wenn Du es ernst meinst, sei am Samstag, den 18. Oktober, um punkt 18.

00 Uhr in der Otto-Schleiermacher-Straße 28 in Hamburg-Wandsbek. Du wirst auf den Glockenschlag genau bei Siebeck klingeln. Frag in der Gegensprechanlage nach Cora. Im dritten Stock wirst Du erwartet werden. Und eins muß Dir klar sein: wenn Du nicht kommst, wirst Du keine zweite Chance erhalten. „

Matthias suchte fahrig nach seinem Kalender. Am Samstag hatte er frei, nichts sprach dagegen, die 50 Kilometer nach Hamburg zu fahren und pünktlich um sechs dort zu sein.

Noch sechs Tage hatte er Zeit. Zeit, um sich darüber klar zu werden, ob und was er wirklich wollte. Zeit um Mut zu sammeln. Oder auch, um allen Mut zu verlieren.

Schlagartig wurde ihm klar, daß die geheimnisvolle Cora kein Wort zum Inhalt seines Briefes verloren hatte. Nicht ein einziges. Was mochte das bedeuten? Verstand sie ihn? Oder schlimmer, war er ihr völlig egal?

Und noch was fiel im auf, womit er nicht gerechnet hatte: kein Wort über Geld, Honorar, Lohn oder dergleichen.

Noch nicht einmal eine Andeutung zwischen den Zeilen. Matthias hatte gehört, daß manche Damen nicht zimperlich waren, wenn es darum ging, ihre Bemühungen in Gold aufzuwiegen… Nun, für alle Fälle nahm er sich vor, nicht mit leerer Brieftasche loszufahren, sich aber eine klare Grenze zu setzen. Um sich ausnehmen zu lassen, fuhr er jedenfalls nicht dorthin.

Auf der anderen Seite hatte er das seltsame Gefühl, daß es bei der ganzen Sache zu allerletzt um Geld ging.

Ihm sowieso, aber Cora?! Sollte sie tatsächlich mehr wollen, anders sein, sollte es ihr tatsächlich mehr um seine Träume gehen?

Die sechs Tage waren wie im Flug vergangen. Tag und Nacht kreisten seine Gedanken um seine innersten Gefühle, Fantasien, Träume. Er spürte, nach diesem Wochenende würde nichts mehr so sein, wie es war. Und wußte doch, daß es letztlich nichts weiter werden würde als ein Besuch bei einer Dame, die auf die Erfüllung spezieller Wünsche spezialisiert war.

Mochte man sie nennen, wie man wollte.

Matthias hatte Angst, ernüchtert aufzuwachen. Aber genauso Angst hatte er, sie könnte es ernst meinen. Allzu ernst. Obwohl gerade das ja seinen ganz besonderen Reiz hatte. Zwei Seelen rangen in seiner Brust.

Schließlich war er am Samstagmorgen um sechs hellwach aufgestanden. Sein Adrenalinspiegel war schon zu dieser Zeit höher als sonst. Das Frühstück genoß er fast wie eine Henkersmahlzeit.

Zum Mittagessen war sein Nervenkostüm nicht mehr wirklich in der Lage. Ein halbes Hähnchen im Imbiß an der Ecke, zu mehr war Matthias heute nicht fähig. Er irrte ziellos im Haus herum und schlug die Zeit mit irgendwelchen mehr oder weniger sinnvollen Verrichtungen tot, Hauptsache, sie lenkten ihn ab.

In der Mailbox war die ganze Zeit nichts mehr angekommen, warum sollte es auch. Die Ansage war klar gewesen, nichts war dem hinzuzufügen.

Um 16 Uhr schließlich holte er das Auto aus der Garage und fuhr ganz langsam los. Nur nicht in der Aufregung auch noch einen Unfall bauen! Den Weg zur Autobahn fuhr sein Wagen eh schon von alleine. Es war dichter Verkehr, die Ausflügler kehrten von der Ostsee zurück und waren noch nicht wieder ganz in der Realität angekommen. Matthias auch nicht, aber um so vorsichtiger fuhr er, als ihm genau das bewußt wurde.

Es war noch nicht fünf Uhr, als er in Wandsbek ankam. Die Schleiermacher-Straße fand er schnell, es war eine dieser unzähligen Hamburger Wohnstraßen, gesäumt von alten Bäumen, schöne Altbauten auf jeder Seite, mehr oder weniger gepflegt, aber netter anzuschauen als diese gesichtslosen Neubaubunker. Die Wohnungen boten in der Regel viel Platz, man hörte nicht jeden Pups der Nachbarn, und so mancher Dachboden war ein kleines Paradies geworden, unscheinbar von außen, aber um so bemerkenswerter von innen.

Und wunderbar geeignet, um frei und unbeschwert zu wohnen.

Niemand konnte hineinsehen, niemand klopfte über einem auf den Fußboden, wenn es mal ein wenig laut wurde, und aus den Fenstern hatte man eine unbeschreibliche schöne Aussicht über die Dächer der Großstadt,was besonders abends seinen Eindruck nicht verfehlte. Matthias hatte bei Freunden oft den ganzen Abend am Fenster gesessen und die ganz besondere Atmosphäre genossen.

Da war die Nr.

28. Ein Haus wie jedes andere. Keine Besonderheiten zu bemerken. Und richtig, es war eine Klingel mit dem Namen Siebeck dabei, ganz oben. Dritter Stock stand in der Mail. Paßte. Sein Herz fing wieder an zu klopfen. „Ruhig Blut!“, sagte Matthias laut zu sich selber, „Du hast schon andere Situationen heil überstanden!“

Ein Blick auf die Uhr, er hatte noch fast eine Stunde Zeit. Immerhin besser, als zu spät zu kommen, das hätte er sich nie verziehen.

Er faßte den Entschluß, frische Luft zu schnappen und ein wenig spazierenzugehen. Das konnte nur gut für ihn sein. Der Kopf würde freier, die Gedanken klarer. Leider hatte es just als er ankam angefangen zu regnen. Nicht das erste Mal an diesem Tag. Es war Mitte Oktober, und in diesem Jahr war es nicht gerade ein goldener.

Mit dem Regenschirm bewaffnet lief Matthias los. In der Nähe war ein kleines Einkaufszentrum, die Läden waren noch offen, aber kaum jemand unterwegs.

In einer kleinen Bäckerei kehrte er ein, wärmte sich auf und gönnte seinem halbleeren Magen ein Stück Kuchen. Eine Tasse Kaffee dazu tat unheimlich gut, er merkte, wie die Lebensgeister erwachten. Und wie plötzlich die Lust in ihm hochkam. Die Mischung aus Angst und Vorfreude änderte sich langsam zugunsten der Freude.

War es wirklich „DIE einmalige Chance“, die da auf ihn wartete? Sollte sein Leben doch noch einen Weg gehen, der seinem Traumpfad – ähnlich dem der Aborigines – nahe kam?

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß er schon viel zu lange dasaß und nachdachte.

Schnell bezahlte er, nahm seinen Schirm und lief schnurstracks zur angegebenen Adresse zurück. Sein Auto stand noch brav im Regen und wartete auf ihn. Er ließ es stehen und wandte sich dem Haus zu. Noch zwei Minuten, puh, das hätte ins Auge gehen können. Wenn er ins Träumen kam, hatte er schon oft die Zeit vergessen.

Punkt 18 Uhr drückte er auf die Klingel mit dem Namen Siebeck. Eine junge, weibliche Stimme meldete sich: „Hallo?!“ Matthias fragte nach Cora, und schon summte der Türöffner.

Die Tür schloß sich hinter ihm, und er stand in einem wunderschönen Jugendstil-Treppenhaus, sanft und stilvoll beleuchtet. „Dritter Stock“ hatte man ihm mitgeteilt. Dritter Stock Altbau war schon ein nettes Stück Arbeit.

Matthias wußte nicht, ob ihm das Herz wegen der Anstrengung oder der Aufregung bis zum Hals schlug. Aber er kam bald oben an und atmete ein paarmal tief durch. Ganz untrainiert war er nicht, also wars wohl doch die Aufregung.

Die tiefen Atemzüge taten ihre Wirkung, er entspannte sich langsam und schaute sich um.

In der offenen Tür der rechten Wohnung stand ein Engel. Jedenfalls hätte es gut einer sein können. Eine zarte junge Frau stand da in einem langen, seidig glänzenden, hellblauen Gewand. Ihre blonden langen Haare hatten einen goldenen Glanz, ihr Lächeln war wahrlich das eines Engels. Ihre Hände steckten in ebenso seidig glänzenden, feinen weißen Handschuhen, ihre Füße verschwanden unter dem weich fallenden Stoff.

Es war ein göttlicher Anblick! Sie hatte ihren Blick unverwandt auf Matthias geheftet und lächelte ihn ermutigend an.

„Komm doch rein!“ sagte sie mit sanfter, schmeichelnder Stimme. Matthias gab sich einen Ruck und folgte der Einladung. Er spürte, hier drohte ihm kein Ungemach. Er spürte aber auch die gewisse Distanz zwischen dem Engel und ihm.

„Komm, gib mir Deine Jacke und Deinen Schirm, die sind ja ganz nass, zieh Deine Schuhe aus und hier diese an.

Und entspann Dich, wir beißen nicht!“, sprach der Engel.

Matthias gehorchte, er kriegte immer noch kein Wort heraus. Schließlich nahm er sich zusammen und sagte: „Erstmal einen schönen guten Abend! Ich bin Matthias. Und ganz herzlichen Dank für den netten Empfang! Damit hatte ich so ehrlich gesagt nicht gerechnet. Es ist nicht ganz einfach für mich, hierher zu…. “

„Psst“, machte der Engel und legte Matthias die Hand auf den Mund.

„Du bist jetzt hier. Punkt. Ich heiße Sabine und bin für Dich da. Vertraue mir, ich werde bei Dir bleiben, solange Du hier bist. Es wird Dir nichts Böses passieren, dafür stehe ich mit meinem Wort. Laß uns hier rein gehen und erstmal ein bißchen miteinander reden. Magst Du einen Tee? Mach's Dir bequem, ich komme gleich wieder. Wir haben noch ein wenig Zeit, meine Herrin ist noch nicht bereit, Dich zu empfangen. „

Matthias machte es sich auf dem Sofa bequem und versuchte, sich ganz tief zu entspannen.

Der Raum strahlte eine unglaubliche Harmonie aus, warme Farben, Tageslichtlampen, Pflanzen, asiatisch anmutende Dekorationen, eine Oase des Wohlgefühls. Bestimmt hatte die Besitzerin Ahnung von Feng Shui. Er hatte irgendwie das Gefühl, angekommen zu sein. Aber wo?!…

Sabine kehrte zurück mit zwei dampfenden Tassen Tee. Ein wunderbarer Duft verteilte sich im Raum. Kam er vom Tee oder von ihr? Sie trug immer noch das engelsgleiche Gewand und schaute Matthias freundlich und offen an.

Mit beiden Händen reichte Sie ihm die große Tasse, er griff vorsichtig danach und nahm einen ersten Schluck. Was ihm im Augenwinkel begegnete, ließ ihn fast die Tasse fallenlassen. Im letzten Moment bewahrte er die Contenance und setzte sie sanft auf der Tischplatte ab.

Sabine trug nun keine Handschuhe mehr. Matthias hatte selten so schöne, sanfte, engelsgleiche Hände gesehen. Doch was sein Herz einen heftigen Sprung machen und schon wieder bis zum Hals klopfen ließ, war die schlichte Tatsache, daß diesen wunderschönen Händen etwas eigentlich ganz Selbstverständliches völlig fehlte: die Fingernägel.

Jedem normalen Menschen hätte diese Tatsache einen Schauer der Angst oder Abscheu über den Rücken gejagt. Matthias aber war kein „normaler“ Mensch, deshalb war er ja auch hier, hatte sich bedingungslos in dieses Abenteuer gestürzt.

Er hatte seit seiner Kindheit einen Traum, der mit der Pubertät zu einer lustbesetzten Fantasie wurde: eben genau solche Hände zu haben, wunderschöne, sensible Hände – ohne Fingernägel. Er hatte auch sehr bald gemerkt, daß ihn schmerzhafte Manipulationen an seinen Fingernägeln regelrecht „heiß“ machten.

Was andere Menschen als schrecklich empfanden, war für ihn der Gipfel der Lust: Nadeln und allerlei vorstellbare und unvorstellbare Dinge, die mit heftigsten Schmerzen verbunden waren. Und eben ganz speziell an seinen Fingernägeln. Wobei er nicht böse gewesen wäre, wenn die Manipulationen den Verlust des einen oder anderen zur Folge gehabt hätten. Sein innerster, sehnlichster Traum war immer schon ein Leben „ganz ohne“ gewesen.

Und nun saß da eine engelsgleiche junge Frau ihm gegenüber, die genau diesen Traum real lebte.

Leben mußte? War es nur ein Zufall, ein Erbfehler? Ja, sicher, anders konnte es unmöglich sein! Eine junge Frau, die solche Träume mit ihm teilte?! Und dann auch noch umsetzte!? Völlig ausgeschlossen! Sowas gab's noch nicht mal im Fernsehen. Aber immerhin im Internet. Das Bild aus vergangenen Jahren auf dieser ominösen Sexseite fiel ihm wieder ein…

„Hallo, Matthias!“ Er schaute auf. Sabine saß ganz nah vor ihm. Sie schaute ihn an, ließ ihren Blick auf seine Hände sinken und hob ihn wieder, bis sie gerade in seine Augen schaute.

„Ich weiß, was in Dir vorgeht! Ich habe Deine Bewerbung für meine Herrin gelesen und wußte sofort, daß Du ein ganz besonderer Gast in unserem Hause sein würdest.

Du wirst es wahrscheinlich nicht glauben, aber wir beide sind uns in gewisser Beziehung sehr, sehr ähnlich! Ich habe meiner Herrin unendlich viel zu verdanken, eigentlich mein ganzes Leben! Ja, seit ich bei ihr bin, lebe ich erst wirklich! Ich bin sicher, Du verstehst, was ich meine! Cora ist eine wunderbare Frau, Du wirst es merken.

Heute wird ein ganz besonderer Tag für Dich sein! Doch nun ist keine Zeit mehr zum Reden! Sammel Deine Gedanken, hab keine Angst, freu Dich auf die Begegnung mit meiner Herrin und die nächsten Stunden mit ihr!“

In der Tür, die sich nun plötzlich an der Seite des Zimmers öffnete, die vorher wie eine durchgehend feste Wand wirkte, stand eine bemerkenswerte Frau. Cora, Sabines Herrin. Groß, schwarzhaarig, sinnliche, rote Lippen, bekleidet mit einem schwarzen Outfit, das eine Mischung aus einem stilvollen, langen Kleid und einem der typischen SM-Kostüme darstellte.

Es strahlte Eleganz aus, aber auch Macht – die Frau darin nicht minder.

Eine klare, feste Stimme, die Vertrauen einflößte, aber auch keinen Deut Zweifel erlaubte, wer hier das Sagen hatte, forderte Matthias auf, in den Nebenraum zu kommen.

Er gehorchte sofort, aber auch ohne Angst. Das Gespräch mit Sabine, die sich still und ehrerbietig in eine Ecke des Raumes auf ein großes Sitzkissen verzogen hatte, hatte ihm Mut gemacht und das Gefühl gegeben, nicht umsonst hierher gekommen zu sein.

Es würde wohl tatsächlich so sein: nach diesem Abend würde sein Leben ein anderes werden. Doch er ließ sich keine Sekunden länger seinen Gedanken nachhängen, Herrin Cora war von nun an die einzige, oberste Instanz.

Cora machte nicht viele Worte. Sie bedeutete Matthias, sich auszuziehen, ja, ganz…! Er schluckte, aber folgte ihrem Willen. Etwas ungewöhnlich war das ja schon, aber Gewöhnliches hatte er ja auch nicht erwartet. Sie betrachtete ihn langsam und gründlich von oben bis unten und sagte kein Wort.

Schließlich ließ sie sich seine Hände reichen und schaute sie lange an. „Du hast mit Sabine Tee getrunken?“ fragte sie ihn. Mehr als ein leises Ja kriegte er nicht zustande. Um ihre Mundwinkel spielte ein eigentümliches Lächeln, ein wenig Wehmut, ein wenig Glück, ein wenig Traurigkeit waren darin zu erkennen. Dann fing sie sich und war wieder ganz die Herrin Cora.

„Geh in das Zimmer dort drüben und setz Dich auf den Stuhl! Keine Angst, Du wirst nicht frieren, dort ist es schön warm.

“ Matthias, der so splitterfasernackt schon angefangen hatte zu frösteln, ging ins Nebenzimmer, das recht dämmerig war, und schaute sich um. Einziges Möbelstück war ein großer Stuhl, eher ein Sessel, mit eigentümlichen Armlehnen. Sie endeten jeweils in einer hölzernen Hand, genau so groß wie ein menschliches Original. Die Rückenlehne war seltsam geformt und reichte bis über den Kopf. Die anderen Objekte im Zimmer, waren es nun Regale oder kleine Tischchen, waren mit schlichten Stoffen verhängt.

Er wagte nicht, darunter zu schauen. Schließlich setzte er sich gehorsam hin.

Wie ein Engel schwebte Sabine in den Raum und sagte leise zu Matthias: „Die nächsten Stunden wirst Du nichts sehen können, aber um so mehr fühlen!“ Mit sanfter Hand legte sie ihm eine schwarze Schlafbrille über die Augen und befestigte sie mit mehreren Bändern fest an seinem Kopf. „Hab keine Angst, laß Dich fallen und genieße! Du wirst diesen Abend nie vergessen!“

Matthias mußte wieder schlucken,aber er sah ein, keine andere Wahl zu haben, und fügte sich seinem Schicksal.

Komme, was da wolle, Sabine war wieder bei ihm und gab ihm das Gefühl, daß ihm nichts widerfahren würde, das ihm nicht guttäte. Er spürte, daß auch Cora angekommen war und nun beide Frauen anwesend waren. Dann wurde es still.

Dunkel war es für ihn ja eh. Er versuchte, seine Ohren zu aktivieren, aber das half ihm wenig. Ein wenig Stoffrascheln, ein bißchen Knistern, ein paar unerklärliche Geräusche, sonst nichts.

Cora und Sabine schienen sich wortlos zu verstehen, eine perfekte Harmonie zu bilden.

Er fühlte, wie sich feste Bänder oder Riemen um seine Arme und Beine schlossen, wie er offensichtlich auf dem großen Stuhl Stück für Stück befestigt, nein: gefesselt wurde! Sein Herz fing an zu klopfen. Einerseits war das irgendwie angsteinflößend, andererseits gab es ihm auch ein eigentümliches Gefühl der Sicherheit, fest und unverrückbar Halt zu haben, wenn die beiden noch mehr mit ihm vorhätten.

Von Cora und Sabine gefesselt zu werden, war seltsamerweise auf eine ganz bestimmte Art und Weise schön. Als er sich schon völlig bewegungs- und wehrlos wähnte, spürte er plötzlich, wie sich etwas Festes, Hartes um seine Finger schloß. Es erinnerte ihn an die metallenen Schlauchschellen, mit denen er im Sommer den Gartenschlauch verlängert und befestigt hatte. Ihm fielen die speziellen Armlehnen des Stuhles ein, auf dem er saß. Da wurde ihm schlagartig klar, daß er von nun an noch nicht einmal mehr eine Fingerspitze bewegen können würde.

Was immer auch mit ihm passierte, er könnte noch nichtmal einen Millimeter zur Seite zucken.

Und wieder merkte er, daß ihm dieser Umstand andererseits eine Art von Wohlbefinden vermittelte.

Er beschloß, von nun an das Denken vollständig einzustellen und sich vollständig fallenzulassen. Wie hatte doch Hermann Hesse gedichtet:

„Hingabe, Du, Urmutter aller Lust,

Die ich floh, die ich so oft verflucht,

Die mich dennoch immer hat gesucht,

Endlich werf ich mich an deine Brust!“

Er hatte Hermann Hesse schon immer sehr gemocht, nun begann er, auch dieses Gedicht wirklich zu verstehen.

Von einer „Ahnung von Erlösung und Erbarmen“ war da die Rede, von einer „Liebe, die mich ganz erkennt“. „Willig folg ich Dir durch Blut und Angst“, hatte Hesse weiter gedichtet. Matthias ahnte, daß er nah daran war, Hesses Worte nachvollziehen zu können. Und er gab sich völlig hin.

Die erste Nadel traf ihn völlig unvermutet. Sie suchte sich ihren Weg ausgerechnet durch seine linke Brustwarze, eine der empfindlichsten Stellen seines Körpers. Er stöhnte leise auf, verbiß sich aber, einen Schrei von sich zu geben.

Was sollte das noch werden? Er war ja auf so manches vorbereitet, aber darauf?

Ganz leise hörte er Sabine an seinem Ohr: “Entspann Dich, ich bin neben Dir, laß Dich fallen und genieße den Schmerz!” Er atmete tief durch, fühlte eine Welle der Wärme durch seinen Körper gehen und spürte ein leises Glücksgefühl in sich aufsteigen.

Es wurden noch einige Nadeln mehr an diesem Abend. Und nicht nur an seinen Brustwarzen.

Etliche hatten sich auch in seine Finger gebohrt, waren neben oder sogar unter seinen Fingernägeln hindurchgewandert. Matthias hatte schon immer gewußt, daß das für ihn mehr schön als schmerzhaft war, aber diese Gefühle heute abend waren so noch nie dagewesen. Es war wie in einem Traum, den er schon immer geträumt hatte, vielleicht schon in seinem früheren Leben, vor dem jetzigen.

Irgendwann hatte er aufgehört, jeder einzelnen Nadel nachzuspüren. Der Schmerz hatte all seine Sinne durchdrungen und betäubt, ähnlich wie bei einer chinesischen Akupunktur.

Für eine Sekunde schoß ihm die asiatische Dekoration des Wohnzimmers durch den Kopf. Alles paßte, die Einrichtung und ihre Bewohner. Herrin Cora hatte ihn vollständig in seiner Gewalt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Jede Faser seines Körpers gehörte ihr, aber auch jede kleinste Gefühlsregung wurde von ihr ausgelöst. Sie spielte mit seinen Sinnen genauso meisterlich wie mit ihren Nadeln.

Matthias war kaum noch Herr seiner Sinne. Er schwebte in einer Sphäre, in der es nur noch Genuß und Lust, aber kaum noch Schmerzen gab.

Der Stuhl gab ihm körperlichen Halt, Sabine an seiner Seite seelischen, wann immer er eine Sekunde der Schwäche zeigte. Er war zeitweise wirklich nicht mehr in dieser Welt.

Ein leises Zischen wie von einem Gasbrenner war nun zu hören. Es beunruhigte ihn in keiner Weise. Er nahm es nur wahr wie durch eine meterdicke Mauer, ahnte, daß etwas Neues passieren würde, er vielleicht in noch höhere Sphären abdriften würde. Er hatte nichts dagegen…

Der Schmerz an seinem linken Daumen raubte ihm für einige Sekunden die Sinne.

Ein Schrei entrang sich seiner Brust, gleichzeitig gab er sich einem Orgasmus hin, wie er ihn in seinem ganzen Leben noch nicht gehabt hatte. Eine Riesenwelle von Glücksgefühlen, ausgelöst von einer heftigen Endorphin-Ausschüttung, durchflutete ihn. Er schwebte davon und blieb eine ganze Weile auf Wolke 7.

Als er wieder zu sich kam, spürte er, wie die Nadeln aus den vielen Stellen an seinem Körper entfernt wurden, seltsamerweise tat das kaum weh.

Es war einfach nur eine Befreiung von einer Last, auch wenn es zeitweise eine süße gewesen war. Die beiden Frauen machten es mit ruhiger, erfahrener, sicherer Hand, genauso einfühlsam, wie sie den ganzen Abend mit ihm umgegangen waren – und blitzschnell. Matthias hatte den Eindruck, es seien keine drei Minuten vergangen, als er merkte, daß er seinen Körper und alle Gliedmaßen wieder frei bewegen konnte.

Noch war es dunkel um ihn herum, doch schließlich nahm ihm Sabine die schwarze, weiche Stoffbrille ab und er öffnete vorsichtig seine Augen.

Im Zimmer herrschte immer noch Dämmerlicht, das ihm jetzt allerdings wesentlich heller vorkam. Er blinzelte ein wenig und riß die Augen einmal weit auf, um wieder normal zu sehen. Dann schaute er sich langsam um.

Neben ihm stand der hellblaue, blonde Engel, vor ihm die schwarze Cora. Beide hatten ein Lächeln auf den Lippen, und Cora sagte mit einem leicht spöttischen Unterton: “Willkommen auf der Erde!” Sabine schaute ihn mit einem Blick an, der ihn tief im Innersten berührte, und sagte ganz leise: “Willkommen in meiner Welt!” Ihr sanftes Streicheln über seinen Kopf ließ ihn eine Gänsehaut kriegen, die noch lange nachwirkte.

Sie führten ihn in den anderen Raum, wo er sich ankleidete und Stück für Stück versuchte, mit seinen Sinnen wieder in die Realität zurückzukehren. Als er ins Wohnzimmer kam, saß Sabine wieder auf ihrem Kissen, und ihre Herrin stand an der Tür.

“Matthias, ich wünsche Dir noch schöne ruhige Stunden der Rückbesinnung auf den heutigen Abend und eine gute Heimkehr. Ich bin sicher, Du wirst Dich Dein Leben lang daran erinnern, und ebenso sicher, Du wirst heute nicht das letzte Mal hier gewesen sein.

Ich ziehe mich jetzt zurück, Sabine wird Dir noch bis zu Deinem Abschied zur Verfügung stehen. ”

Sie blickte ihn fest an, lächelte ein sehr tiefgründiges Lächeln, wiederum umspielt von einer Portion Wehmut, und verschwand, bevor Matthias noch ein Wort des Dankes oder Abschieds sagen konnte, leise aus dem Zimmer.

Es war eine unwirkliche Situation – und eine seltsame Stimmung im Raum. Matthias hätte schreien können vor Glück, und doch war ihm fast zum Weinen.

Er wollte nicht weg, er wollte nicht wieder zurück in seinen Alltag. Sabine schien seinen Gedanken zu erahnen. Sie reichte ihm eine frische Tasse Tee und sprach dann ganz sanft auf ihn ein:

“Matthias, ich weiß vielleicht besser als Du, was dieser Abend für Dich bedeutet. Für Dich hat heute ein neues Leben begonnen. Ob auch für mich, das weiß ich noch nicht. Du wirst jetzt nach Hause fahren, aber ich bin sicher, Du wirst wiederkommen, und das in nicht allzuferner Zeit.

Vielleicht sogar sehr bald. Du wirst ein Andenken an uns mitnehmen, daß Dich in Deinem neuen Leben immer begleiten und seinen Beginn nie vergessen lassen wird.

Ich habe heute abend einen Menschen kennengelernt, der mir vielleicht sehr viel bedeuten wird. Und der auch für Cora eine Veränderung ihres Lebens mit sich bringen könnte. Aber das ist nicht mehr ein Thema für heute abend. Es ist alles gut, so wie es gekommen ist.

Es soll so sein, laß uns die Dinge so annehmen, wie sie uns bestimmt sind. Meine Herrin sieht das genauso. ”

Matthias saß stumm bei seiner Tasse Tee, die er mit beiden Händen umfaßt hielt. Die Wärme tat ihm gut, der Tee weckte die Lebensgeister, die er dringend brauchte, um durch die Dunkelheit nach Hause zu fahren. Sabines Worte hatte er unauslöschlich abgespeichert, aber noch nicht alle verstanden. Er wußte, er brauchte sich heute abend auch keine Mühe mehr damit zu geben.

Morgen war ein neuer Tag, Sonntag, und nach einer ruhigen Nacht würde er auch wieder denken können.

Leise nahm er seine Jacke und den inzwischen wieder trockenen Schirm und wandte sich dem Ausgang zu. Dort stand schon Sabine und hatte den Türgriff in der Hand, aber hielt die Tür geschlossen. Sie wartete auf etwas, und plötzlich wurde ihm klar, worauf.

Er nahm sie in den Arm, so intensiv, wie er noch nie im Leben eine Frau im Arm gehabt hatte, und blickte ihr tief in die Augen.

“Auf Wiedersehen, mein Engel!” flüsterte er ihr zu, “und sei sicher, es wird bald sein!” Die Tür öffnete sich, Matthias setzte vorsichtig seine Füße ins Treppenhaus, machte Licht und schaute sich um. Er sah gerade noch, wie der hellblaue Engel mit Tränen in den Augen die Tür schloß. Es gab ihm einen Stich ins Herz, doch er wandte sich um und ging ganz langsam die Stufen hinunter.

Draußen war es äußerst ungemütlich, es regnete immer noch, aber sein Auto stand brav am zugewiesenen Platz und erwartete ihn.

Noch immer etwas in Trance schwang er sich hinters Steuer und ließ den Motor an. Und mit aller Sorgfalt lenkte er den Wagen durch die dunkle, nasse Stadt, auf die Autobahn, nach Hause.

Unterwegs durchlebte er viele Szenen des Abends noch einmal. Und er holte sich immer wieder Sabines Worte aus der Erinnerung und dachte drüber nach.

Als er am nächsten Morgen erwachte, spürte er einen heftigen Schmerz an seinem linken Daumen.

Erstaunt registrierte er, daß ein großes Pflaster darauf klebte, das am Abend zuvor in seinem tranceähnlichen Zustand völlig unbemerkt geblieben war. Er entfernte es sehr vorsichtig, nicht ohne zu ahnen, was ihn darunter erwartete. Und seine Ahnung sollte sich bestätigen. Sabine hatte ihm etwas von einem Andenken gesagt, das er nie vergessen würde. Ja, sie hatte recht, das würde er nie.

Er war ihr ein ganzes Stück näher gekommen, ganz real, und gleichzeitig auch ein Stück seines Traumpfads gegangen.

Sie hatte ihm bei diesem ersten Schritt zur Seite gestanden. Und sie würde es auch bei den nächsten tun. Er hatte die Reifeprüfung bestanden, er war reif für die Realisierung seiner Träume.

Vielleicht würden Sie irgendwann ihr neues Leben gemeinsam leben und genießen können. Bis dahin war es noch ein weiter Weg. Aber es gab ihn, er hatte ihn gefunden. Und er war sicher, er würde ihn gehen. Die Tatsache, ihn nicht alleine gehen zu müssen, erfüllte ihn mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl.

Plötzlich begriff er auch, weshalb Cora so einen wehmütigen, ja traurigen Zug in ihrem Lächeln gehabt hatte. Ihr war klar geworden, daß sie Sabine nicht für alle Ewigkeit besitzen würde. Matthias fühlte einen kleinen Stich im Herzen, aber dann wurde er von einer Welle des Glücks und der Liebe übermannt, die ihm schier die Sinne raubte.

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